Bericht zum Männerviertelfinale der Olympiade 2000
Zwölf harte Männer sitzen in der Kabine und heulen
Deutsche Handballer verpassen beim 26:27 gegen Spanien denkbar knapp den Einzug ins Halbfinale
Markus Baur lag der Länge nach auf dem Rücken und starrte ins Nichts. Christian Schwarzer
hockte auf der Spielerbank und hatte sich ein Handtuch über den Kopf gestülpt. Neben ihm
saß Frank von Behren und weinte hemmungslos. Andere schluchzten vor sich hin. Menschen
ohne Worte. Nur Bundestrainer Heiner Brand, selbst blass im Gesicht, lief von einem zum
anderen und versuchte, seinen Handballern Trost zu spenden. Szenen nach einem sportlichen
Drama. Mit 26:27 (13:11) verlor die deutsche Mannschaft das Viertelfinale gegen Spanien,
obwohl sie eindreiviertel Minuten vor Schluss wie der sichere Sieger ausgesehen hatte.
26:25 führte das DHB-Team und durfte die Partie ab sofort mit einem Mann mehr zu Ende
spielen, weil den boxenden Iberer Masip eine zweiminütige Auszeit ereilte. Doch dann
ereigneten sich folgenschwere Fehler, die Heiner Brand später zwar als "Kleinigkeiten"
bezeichnete, aber eben als "Kleinigkeiten, die ein Spiel auf solch hohem Niveau dann
entscheiden".
Die erste: ein falsches Stellungsspiel auf der rechten Abwehrseite ermöglichte dem
Spanier Lozano frei zum Wurf zu kommen.
Die zweite: Torhüter Jan Holpert vergaß, die kurze Ecke abzudecken und ließ die Kugel
unter seinem rechten Fuß hindurch.
Die dritte: 55 Sekunden waren jetzt beim Stand von 26:26 noch zu absolvieren, wohlgemerkt
in Überzahl, doch statt die Zeit weitgehend auszuspielen, warf Stefan Kretzschmar bereits
nach 15 Sekunden. Der Aufsetzer landete an der Latte, der Ball beim Gegner.
Die vierte: Bernd Roos langte zu heftig zu, kassierte eine unnötige Hinausstellung,
zwölf Sekunden vor Ende waren beide Teams wieder ausgeglichen.
Und die fünfte: Brands konfus gewordene Recken brachten es auch nicht fertig, die
verbleibende Minimalzeit ohne Gegentor zu überstehen, um wenigstens die Verlängerung zu
erreichen. Vier Sekunden vor dem Ende machte der überragende Welthandballer Guijosa
mit seinem neunten Treffer den deutschen K.o. perfekt.
Die deutschen Handballer fanden die Sprache nicht mehr an diesem Abend. Auch Klaus-Dieter
Petersen wäre liebend gerne schweigend verschwunden, doch der Kapitän musste mit dem Chef
zur Pressekonferenz. "Ich kann mir nicht vorstellen", sagte der Kieler, "dass sich die
Mannschaft noch einmal aufraffen kann". Wer dafür kein Verständnis habe, müsse nur einen
Blick in die Kabine werfen, "da sitzen zwölf Männer und heulen, wir sind zwar Profis,
aber Menschen und keine Maschinen". Die Partien um die Ränge fünf bis acht nannte Petersen
einen "absoluten Schwachsinn".
Um die Ränge fünf bis acht - das ist eine herbe Enttäuschung für die deutschen Handballer,
weil als Ziel die Halbfinal-Teilnahme mit Aussicht auf eine Medaille formuliert worden
war. Besonders übel aber ist der Tiefschlag, weil Brands Mannschaft bis zum letzten
Vorrundenspiel gegen Ägypten überzeugt hatte. Jugoslawien besiegt, Russland geschlagen,
"da haben wir gezeigt", so der Bundestrainer, "dass wir mit der Weltspitze mithalten
können und in einigen Punkten sogar besser sind" - doch dann die Schlappe gegen die
Afrikaner. Der Blackout kostete den Gruppensieg und bescherte die Spanier als
Viertelfinalgegner statt der Slowenen. Ein gravierender Unterschied, wie das erste
Viertelfinale gestern zeigte: Die Russen fegten die Slowenen mit 33:22 vom Parkett und
dürfen nun im Halbfinale wieder gegen die Jugoslawen (26:21 gegen Frankreich) ran, die
sie schon in der Vorrunde geschlagen haben.
Spanien trifft in der Vorschlussrunde auf Schweden (27:23 gegen Ägypten) und will Revanche
für das 27:28 im Gruppenspiel. Heiner Brand und seinen "Frusties" hat Sydney Lob vom
DHB-Präsidenten eingebracht. Ulrich Strombach beeilte sich, den Medienvertretern mitzuteilen,
"eine solche starke Leistung habe ich von einer deutschen Mannschaft in den letzten zehn
Jahren nicht gesehen". Das ist nicht falsch. Sie haben aber auch eine schwer wiegende
Erkenntnis im Rückreisegepäck. Es müssen die Konzentrationsfähigkeit und alles, was unter
dem Oberbegriff mentale Stärke zusammen gefasst werden kann, verbessert werden.
Ruhe, Cleverness, im Idealfall sogar Gefallen an entscheidenden Situationen zu finden,
darum geht es. Dann werden sie vielleicht schon in naher Zukunft auch gegen Spanien
gewinnen: Wegen Kleinigkeiten.
aus der Frankfurter Rundschau vom 27.09.2000, Autor: Ralf Mittmann
An einer Kleinigkeit gescheitert
Wehklagen bei den Handballern, die im Viertelfinale gegen Spanien mit 26:27 ausgeschieden
sind
Als die Schlusssirene den Handballkrimi zwischen Deutschland und Spanien
beendete, löste sich die DHB-Auswahl in Tränen auf. Frank von Behren weinte, Christian
Schwarzer weinte, und auch Stefan Kretzschmar rang sichtlich um Fassung. Den Kopf tief
ins Handtuch vergraben, schlich der Magdeburger National-Linksaußen wie ein ausgeknockter
Boxer in die Kabine. Schuld daran hatte Spaniens Welthandballer Rafael Guijosa, der mit
seinem Treffer vier Sekunden vor dem Ende gleich eine ganze Mannschaft auf die Bretter
schickte. 26:27 verloren - und das im olympischen Viertelfinale: Handballers Traum von
einer Medaille erfüllte sich wieder einmal nicht. "Am Ende", stellte Heiner Brand
fassungslos fest, "fehlte lediglich ein Tor."
Der Bundestrainer wusste dabei allerdings nicht so genau, über welches verpasste Tor
er sich mehr ärgern sollte. Über Kretzschmars Lattentreffer 40 Sekunden vor dem Ende.
Oder über die 21:22-Niederlage zwei Tage zuvor gegen Ägypten im abschließenden Spiel
der Gruppe A, als seine Mannschaft leichtfertig eine günstige Ausgangsposition für das
Viertelfinale vergeben hatte. Daniel Stephan, der verletzungsbedingt das Drama von der
Tribüne aus verfolgte, hatte schon vor Spielbeginn ein gequältes Lächeln auf den Lippen,
als er gefragt wurde, ob ein möglicher Viertelfinalgegner Slowenien nicht wesentlich
leichter zu spielen sei. "Alles Hypothese", antwortete der Lemgoer Spielmacher, um nur
60 Minuten später - die Russen hatten beim 33:22 kaum Probleme mit den Slowenen - diese
bestätigt zu sehen. Selbst Wolfgang Gütschow sah das nicht anders. Der Teammanager und
Vizepräsident des russischen Verbandes hatte sein Team "nur Heiopei-Handball" spielen sehen.
Am Ende reichte das locker. Russland, in der Vorrunde noch mit 25:23 bezwungen, steht
im Halbfinale, die Deutschen sind wieder einmal nur Zuschauer. Da hilft es wenig, dass
das Team selbst von der Konkurrenz mit Lob überschüttet wurde. "Deutschland", so Talant
Duishebaew, "hat hier mit Abstand den besten Handball gespielt." Der Denker und Lenker
im spanischen Aufbau, selbst in der Bundesliga tätig, betrieb sogleich Ursachenforschung.
Den entscheidenden Fehler, so Duishebaew, "haben die Deutschen im Spiel gegen Ägypten
gemacht".
Also doch. Also war es am Ende wieder einmal eigene Dummheit? "Vollkommener Schwachsinn",
konterte Klaus-Dieter Petersen, konnte sich aber der Erkenntnis nicht erwehren, das es
"schon bitter ist, wenn am Ende nichts übrig bleibt". Was so nicht ganz stimmt. Immerhin
hat die deutsche Mannschaft eine Woche lang Werbung in eigener Sache betrieben. Leistungen
wie die in den Vorrundenspielen gegen Jugoslawien und Russland hatte ihr nach der
verkorksten EM im Januar dieses Jahres (Platz neun) niemand zugetraut.
Überflüssig zu sagen, was jetzt auf Mannschaft und Trainer zukommt. Natürlich wird
mancherorts das Versagerimage deutscher Handballer wieder aufpoliert. Aber selten war
es unzutreffender. "Fachleute", sagte Brand, "werden das erkannt haben." Und weiter:
"Ich bin jetzt seit 30 Jahren im Spitzenhandball dabei und weiß, dass am Ende nur
Kleinigkeiten fehlen." Leider eben auch solche wie ein Tor.
aus der Welt vom 27.09.2000, Autor: Arnulf Beckmann